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Erwachen

Unter normalen Umständen hätte die Detonation der Bombe ein Heer von Sanitätern und Polizisten auf den Plan gerufen. Aber nicht hier, mitten in den Sümpfen. Tante Sibuans Haus lag über eine Autostunde von der nächsten Stadt entfernt und schon nach einer halbstündigen Fahrt hatte man das Gefühl, man wäre der einzige Mensch in diesem unzivilisierten Teil der Welt.
Als es passierte stand ich in der Küche mit Blick auf den Vorgarten und spülte das Frühstücksgeschirr. Ich sah, wie Ozzies Wagen über den holprigen Pfad kam und in die Einfahrt einbog. Er hielt vor der Garage. Als Ozzie die Fahrertür öffnete, explodierte der Pickup. Die Erschütterung ließ die Fenster klirren. Ich sah die Flammen an den Trümmern lecken. Ich bemerkte erst, dass ich schrie, als ich bereits an der Haustür angekommen war. Ich riss sie auf und stürmte nach draußen. Der scharfe Geruch nach Motoröl und der süßliche Gestank brennenden Fleisches ließen mich mein üppiges Frühstück verwünschen.
Es war der erste Tag der Sommerferien. Die Luft war schwül und erfüllt von Insektensummen aus dem Sumpfgebiet hinter dem Haus. Es war der letzte Tag, an dem ich meinen Bruder lebend sah.

Als es passierte stand ich in der Küche mit Blick auf den Vorgarten und spülte das Frühstücksgeschirr. Ich sah, wie Ozzies Wagen über den holprigen Pfad kam und in die Einfahrt einbog. Er hielt vor der Garage. Als Ozzie die Fahrertür öffnete, explodierte der Pickup. Die Erschütterung ließ die Fenster klirren. Ich sah die Flammen an den Trümmern lecken. Ich bemerkte erst, dass ich schrie, als ich bereits an der Haustür angekommen war. Ich riss sie auf und stürmte nach draußen. Der scharfe Geruch nach Motoröl und der süßliche Gestank brennenden Fleisches ließen mich mein üppiges Frühstück verwünschen.

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Keiner hatte es kommen sehen. Oh, ja später würde die Schulleitung behaupten, es habe Anzeichen gegeben. Aber in Wahrheit waren sie dem Beginn der Tragödie gegenüber so blind gewesen wie alle anderen. Immerhin war dies Delta Rivers High, die Elite-High-School in Miami; für all jene verkorksten Kids, deren Eltern mehr Geld besaßen, als sie jemals ausgeben konnten. Unsere Lehrer werden dafür bezahlt, die Augen zu verschließen.

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„Izzie, beeil dich“, brüllte Tante Sibuna von unten, als ich durch die Eingangstür hastete, Jeans, T-Shirt und Hände voller Blut. Auf der Kellertreppe stürzte ich beinahe und stütze mich im letzten Moment mit einer Hand an der rauen Wand ab, panisch darauf bedacht, den kostbaren Inhalt meiner anderen Hand nicht zu verlieren. Die letzten Stufen sprang ich in den gefliesten Raum hinab.
Sibunas schlanke Gestalt war fast vollständig von OP-ähnlicher Kleidung bedeckt. Ihre behandschuhten Hände waren so blutig wie meine. Einzelne Strähnen kohlschwarzen Haars hatten sich aus der Haube gelöst und klebten auf ihrer schweißgebadeten Stirn. Das wenige, was ich von ihrem Gesicht hinter der Maske erkennen konnte, sah abgeschlagen und besorgt aus. Sie zog den Mundschutz unters Kinn und murmelte leise etwas. Um ihren Mund lag ein energischer Zug und ihre Augen blickten grimmig. Ich kannte diesen Ausdruck. Sie war wild entschlossen, den Jungen vor sich auf dem OP-Tisch nicht zu verlieren.
„Was hast du noch gefunden?“ fragte sie, während ich mir eine metallische Schüssel vom Instrumentenwagen nahm und meinen Fund vorsichtig hineingleiten ließ. Dann stellte ich die Schüssel neben die elf anderen, auf die Edelstahltheke hinter dem Tisch.
„Die fehlende Niere“, sagte ich nur, mich schon wieder umdrehend und Richtung Treppe eilend.
Tante Sibuna gab ein befriedigendes Geräusch von sich und nähte weiter.

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Man erwartete von uns, eines Tages das Unternehmen zu führen. Dad schärfte uns bereits in der Kindheit ein, dass die Familie über alles ging. Und Naibiri Enterprises war zu einer großen Familie geworden. Er hatte mit unserem Familiennamen ein Imperium aufgebaut. Mit Dad an der Spitze und nicht bei uns zuhause, wie es sich für eine richtige Familie gehörte. Auch wenn er immer in den Vorstandssitzungen vom Wert der Familie redete, daheim sahen wir ihn so gut wie nie. Ozzie und ich verbrachten die Ferien immer bei Tante Sibuna. Und die ließ uns freie Hand.

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Der Wagen war ein Wrack, wie Ozzies Körper. Ich durchwühlte hektisch die herumliegenden Trümmer nach weiteren Körperteilen. Meine Finger berührten etwas Glitschiges unter dem zerfetzten Beifahrersitz. Ich zog es hervor und spürte die Übelkeit in mir hochsteigen. Ich zwängte mich durch die halb weggerissene Beifahrertür hinaus und glitt an ihr hinab, bis ich auf der Straße saß. Ich schloss die Augen und bekämpfte die Übelkeit mit Gegenschlucken. Das hier war Wahnsinn. Ich konnte das nicht mehr. Meine Hände und Beine zitterten durch das Adrenalin und die Angst verkrampfte mein Herz. Ich zwang mich zu mehreren tiefen Atemzügen, dann öffnete ich die Augen und zog mich an der Tür wieder hoch. Mit dem blutigen, rechten Daumen meines Bruders in der Hand rannte ich zurück ins Haus.

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Ozzie ist der Ältere von uns beiden, wenn auch nur um wenige Jahre. Doch trotzdem ist es Ozzie, der die Rolle des Clowns und Unruhestifters übernahm. Ich erinnere mich, wie er eines heißen Sommers, sein erstes Jahr auf dem College, weit weg von uns, unvermutet mitten im Geschichtsunterricht vor meinem Fenster auftauchte. Mit einer gelungenen Ausrede schaffte er es, mich aus dem stickigen Klassenzimmer zu bekommen. Wir verbrachten den Tag an unserem geheimen Lieblingssee. Schwimmen, in der Sonne faulenzen, schlüpfrige Stellen aus Büchern vorlesen und uns gegenseitig mit Sonnencreme einschmieren. Es war wie früher.

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Eigentlich ist Tante Sibuna Bestattungsunternehmerin. Jetzt fragt man sich, was ein Bestattungsunternehmen in den Sümpfen zu suchen hat. Nun, die Einwohner der Sumpfgebiete sind ein eigenartiges Völkchen. Wer im Sumpf geboren wird und hier stirbt, der wird auch hier begraben. Auf die alte Art. Die alte Art hieß, ohne Einmischung der Städter. Hier kam Tante Sibuna ins Spiel. Sie war nicht nur Bestatterin sondern auch die einzige Person in dieser menschenfeindlichen Umgebung, die dank ihrer medizinischen Grundkenntnisse einem Arzt am nächsten kam. Alle gingen zu ihr. Nicht nur um ihre Toten zu beerdigen oder die Kranken heilen zu lassen.

Sie hatte es tatsächlich geschafft. Vor uns auf dem Tisch lag ein perfekt zusammengeflickter Körper. Tante Sibuna zog ihre Handschuhe aus. Sie starrte Ozzie eine lange Zeit ins Gesicht, dann runzelte sie die Stirn und seufzte.
„Was ist?“ fragte ich ängstlich. Ich hatte sie schon wahre Wunder wirken sehen. Die Sumpfleute munkelten, sie könne sogar Tote wieder zum Leben erwecken.
Sie seufzte noch einmal, kehrte Ozzie den Rücken zu und holte aus einem der Wandschränke ein großes Buch. Der alte Schinken fiel mit einem dumpfen Knall auf den Tresen. Sie blätterte wie wild darin herum. Dann griff sie nach etwas hinter sich.
„Etwas fehlt“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu mir. „Geh und hol mir einen Skorpion aus dem Sumpf.“ Sie drückte ein Paar dicke Handschuhe und ein Schraubglas in meine Hand. Ich stand wie angewurzelt da und schaute sie mit großen Augen an. Sie machte eine scheuchende Handbewegung. „Na los, geh schon. Wir haben nicht viel Zeit.“

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Niemals hätte ich geglaubt, dass Theo zu so etwas fähig wäre. Ja, er war ein Ass in Physik und Chemie. Ja, er hatte ein gerahmtes Bild des UNA-Bombers auf seinem Schreibtisch stehen. Ja, er war krankhaft eifersüchtig. Und ja, er war meistens ein arroganter Mistkerl und Hitzkopf. Aber zwischen einer Schulhofprügelei oder Strebern ein Bein stellen und einem Mordversuch liegen Welten.
Als ich ihn zum letzten Mal sah, und ihm den Laufpass gab, warf er mir böse Anschuldigungen bezüglich meines Verhältnisses zu meinem Bruder an den Kopf. Es waren Dinge, die er gar nicht wissen konnte. Nicht wissen durfte. Ozzie und ich waren immer vorsichtig gewesen.

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Ich brachte ihr den Skorpion. Ich hatte das dickste Exemplar gefangen, das ich in der kurzen Zeit finden konnte. Glücklicherweise lieben die Skorpione das einzige unsumpfige Stück Rasen hinter Tante Sibunas Haus.
Tante nickte anerkennend, als sie das Tier sah. Mit geübten Handgriffen öffnete sie das Glas und molk den Skorpion. Sie nahm das Gift und träufelte es auf Ozzies blicklose Pupillen. Sie beugte sich hinab und flüsterte leise etwas in sein Ohr. Weiteres Gift wurde auf seine Lippen aufgetragen. Sie drehte sich zu mir um. Streckte graziös die Hand nach mir aus. Ihre Augen funkelten. „Komm und gib deinem Bruder einen Kuss, Liebes.“

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Ich mag keine Beweise für meinen Verdacht haben – die würde die Polizei benötigen, wenn wir vorhätten, sie zu verständigen – aber mein Herz braucht keine.
Theo wird dafür büßen. Niemand versucht mein eigen Fleisch und Blut, mein Leben und meine Liebe umzubringen, ohne die Konsequenzen dafür zu tragen.
Später, in unserem gemeinsamen Zimmer, als Ozzie bereits schlief, und ich sicher war, dass Tante Sibuna auch zu Bett gegangen war, holte ich die Lunchbox mit dem zweiten Skorpion unter dem Bett hervor. Lautlos schlüpfte ich aus dem Raum und machte mich auf den Weg in den Keller. Ich wusste nun, wo Tante Sibuna ihr berühmtes Buch aufbewahrte.
Die Frauen in den Sümpfen besitzen ihre eigene Form von Magie.

*** The End ***

Nachtrag:
Na, wer hat erraten, welche mythologische Erzählung als Grundlage für diese Kurzgeschichte diente?