Flash Fiction DE

Versuchskaninchen

Die zehnte Instillation war fertig gemischt. Ich hörte auf, die Phiole zu schütteln, öffnete ihren Deckel kurz und machte einen schnellen Riechtest (Lavendel-Orange), verschloss sie wieder und stellte sie auf den Labortisch. Ich rollte mit dem Drehstuhl nach rechts und nahm ein sauberes Paar Latexhandschuhe aus einer Box im hohen Metallregal. Es war vollgestopft mit Utensilien, die man auch in einem Krankenhaus vorfinden würde. Ich streifte die Handschuhe über und griff nach einer der vielen Einwegpipetten, welche in einem sterilen Behälter auf dem Regal über der Handschuhbox lagerten. Zurück zu meinem Tisch rollend, riss ich die Verpackung der Pipette auf, griff nach dem Fläschchen und zog dessen Inhalt hoch, bis die Pipette zur Hälfte gefüllt war.
Hinter mir hörte ich, wie die Versuchstiere in ihren Käfigen angstvolle Laute von sich gaben; sie wurden immer nervöser, als ich näherkam. Dabei hatte ich schon mein Versuchskaninchen für den heutigen Tag auf dem Tisch in der Mitte des Raumes fixiert. Heute war kein anderes von ihnen in meiner Versuchsreihe vorgesehen.

***

Am Anfang war mir die Arbeit in diesem Forschungszweig schwer gefallen. Ich hatte Pharmazie an einer bekannten Universität studiert, hatte das Studium jedoch nur mit einem mittelmäßigen Bachelor abgeschlossen. Ein paar Monate lang hatte ich versucht, einen Fuß in die Krebsforschung zu bekommen, in der sie mit freiwilligen Testpersonen zusammenarbeiten. Allerdings wurde nie eine meiner Bewerbungen beantwortet.
Dann erzählte mir eine ehemalige Kommilitonin während eines Abendessens, von einer freien Stelle in ihrem derzeitigen Forschungsbereich. Es sei zwar meistens recht eintönige Arbeit und vielleicht sei sie in der Bevölkerung nicht hoch angesehen, aber sie als Berufsanfängerin werde trotzdem sehr gut bezahlt und könne sich ihr Arbeitspensum und die Zeiten selbst einteilen. Aber sie tue dies natürlich nur vorübergehend. Bis sich etwas Besseres böte. Immerhin sei ihre Art der Forschung auch ein kleines bisschen illegal. Den letzten Satz sagte sie hinter vorgehaltener Hand und kicherte anschließend in ihr fast leeres Weinglas. Wenn ich aber wolle, könne sie ein Treffen mit ihrem Abteilungsleiter vereinbaren. Ich hatte zögerlich zugestimmt. Im Hinterkopf rumorte der Gedanke an den bevorstehenden Rückzahlungsbeginn meines Studienkredits.
Während ich ihren Abteilungsleiter traf, der mich durch die Laborräume führte, musste ich mich immer wieder zusammenreißen, um nicht nach der Toilette zu fragen, um mich dort zu übergeben. Die seelenvollen Augen, die mir aus den viel zu kleinen Käfigen ständig folgten, der strenge Geruch nach Angst und Fäkalien und das verzweifelte Rütteln an den Gitterstäben gingen mir an die Nieren. Doch die unmenschlichen Schreie waren das Schlimmste. Sie verfolgten uns noch bis auf den Flur hinaus. Durch die geschlossene Tür.
Anschließend gingen wir in sein Büro und ich unterschrieb meinen Arbeitsvertrag.
Als Begrüßungsgeschenk drückte er mir ein Betäubungsgewehr und dazu passende Pfeile in die Hand.

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Ich bin nicht so gefühlskalt, wie ich Ihnen vielleicht erscheinen mag. Als ich die Stelle angenommen hatte, hatte ich zwar eine Geheimhaltungsklausel unterschrieben, aber in der ersten Woche an meinem neuen Arbeitsplatz hatte ich einen stressbedingten Alkoholabsturz. Und in jener weinseligen Stimmung hatte ich Sarah, meiner älteren Schwester, von meiner neuen Tätigkeit erzählt und den schlaflosen Nächten, in denen mich mein Gewissen quälte. Sie sah mich mit Abscheu in den Augen an und redete drei Wochen lang nicht mit mir.

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Die Pipette, gefüllt mit der neusten zu testenden Shampoo-Rezeptur gegen dünner werdendes Haar in der einen, und einem Klemmbrett mit angeheftetem Testblatt, dass ich gleich ausfüllen würde, in der anderen Hand, näherte ich mich meinem heutigen Versuchskaninchen. Es war mit von sich gestreckten Gliedern auf einem Metalltisch fixiert. Ich konnte seine Angst riechen, und ich sah sie auch in seinen weit aufgerissenen, mit Metallklammern fixierten, und so am Schließen gehinderten Augen. Das eine Auge war schon rot und trübte sich von der vorherigen Behandlung mit der Vergleichsprobe eines sich auf dem Markt befindenden gegnerischen Produkts. Mein derzeitiger Kunde wollte, dass wir ein besseres Produkt entwarfen als die Konkurrenz.
Ich sah das schnelle Heben und Senken der Brust, deren Haare waren dort auf einigen Stellen bereits abrasiert worden. In den farbig markierten, rechteckigen Feldern wies die Haut unterschiedliche Verletzungsstadien eines anderen Versuchs auf. Sie war teils nur leicht gerötet, teils massiv verätzt, und an manchen Stellen so offen, wund und blasenwerfend, dass ich am liebsten weggesehen hätte. Hier testete meine Kollegin ein anderes Mittel.
Ich widerstand der Versuchung, ihm zur Beruhigung über das seidig schimmernde Haar zu streicheln. Stattdessen widmete mich wieder den Augen. Sie waren Blau mit einem schwarzen Ring. Wunderschön. Ich tropfte etwas von der Flüssigkeit auf die Pupille. Als die Schreie begannen, steckte ich mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren, um die Laute auszublenden und führte meine Arbeit ungerührt fort.

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Einmal erwischte ich Sarah, wie sie mich mit diesem Blick ansah, als sie glaubte, ich würde es nicht bemerken. Sie hatte es schon öfter getan, doch nun riss mir der Geduldsfaden. Ihr Blick sagte „Du Monster, wie kannst du nur?“
Ich erwiderte kühl: „Möchtest du, dass deine Tochter ungetestete Pflegeprodukte benutzt, die sie vielleicht auch äußerlich auf ewig entstellen können?“ So, wie sie innerlich verletzt war. Seit Janine vor einigen Monaten überfallen worden war, hatte sie sich kaum noch Mühe mit ihrem Äußeren gegeben. Erst vor kurzem hatte sie wieder begonnen, sich hübsch zu machen.
„Wäre es dir lieber, wenn Janine eitrige Ausschläge durch ihre Hautcreme bekommt, oder dauerhaft entzündete Augen von ihrem neuesten Make-up? Oder dass ihr die Haare ausfallen, wenn sie sie mit ihrem neuen Shampoo wäscht? Diese Tests sind notwendig, Sarah.“
Danach hörten die verstohlenen Seitenblicke auf. Genauso wie meine Gewissensbisse nach einer Weile. Genauer, sie verschwanden, nachdem ich die Akten gelesen hatte. Jene Akten, die ich besser nicht hätte lesen sollen. Inzwischen verursachen sie mir mehr schlaflose Nächte als meine Testreihen.

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Ich beobachtete die sich windende Kreatur, notierte auf dem Formular die sichtbaren Veränderungen. Dann rollte ich zu meinem Tisch zurück. Morgen würde ich ein neues Versuchstier für eine neue Testreihe bekommen. Ich schlug die Akte auf, um mich mit dem Fall vertraut zu machen. Nach ein paar Seiten stand ich auf, rannte in das kleine Bad im Nebenraum und übergab mich. Dann kehrte ich zu meinem Schreibtisch zurück.
Auf ihm lag das papierne Innenleben meines baldigen Versuchskaninchens ausgebreitet. Die psychologischen Gutachten konnten mich nicht über das Monster hinter der Maske des liebevollen Familienvaters hinwegtäuschen. Er hatte eine 10-Jährige vergewaltigt. Mehrfach.
Hinter mir verebbten die Schreie des Versuchskaninchens zu einem leisen Wimmern.

***

In gut 1 ½ Jahren werde ich in die nächste Abteilung versetzt. Dann werde ich die neuesten Medikamente an Mördern austesten. Oh, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf schon freue.

*** The End ***